Brahms  Fünf Gesänge
für gem. Chor a capp., Op. 104, 1-5:

1. Nachtwache I
Leise Töne der Brust,
Geweckt vom Odem der Liebe,
Hauchet zitternd hinaus,
Ob sich euch öffn' ein Ohr,
Öffn' ein liebendes Herz,
Und wenn sich keines euch öffnet,
Trag' ein Nachtwind euch
Seufzend in meines zurück.
Friedrich Rückert  (1788-1866)

2. Nachtwache II
Ruhn sie? rufet das Horn
Des Wächters drüben aus Westen,
Und aus Osten das Horn
Rufet entgegen: Sie ruhn!
Hörst du, zagendes Herz,
Die flüsternden Stimmen der Engel?
Lösche die Lampe getrost,
Hülle in Frieden dich ein.

3. Letztes Glück
Leblos gleitet Blatt um Blatt
Still und traurig von den Bäumen;
Seines Hoffens nimmersatt
Lebt das Herz in Frühlingsträumen.
Noch verweilt ein Sonnenblick
Bei den späten Hagerosen
Wie bei einem letzten Glück,
Einem süßen, hoffnungslosen.
Max Kahlbeck  (1850-1921)

4. Verlorene Jugend 
Brausten alle Berge,
Sauste rings der Wald -
Meine jungen Tage,
Wo sind sie so bald?

Jugend, teure Jugend,
Flohest mir dahin;
O, du holde Jugend,
Achtlos war mein Sinn!

Ich verlor dich leider,
Wie wenn einen Stein
Jemand von sich schleudert
In die Flut hinein.

Wendet sich der Stein auch
Um in tiefer Flut,
Weiß ich, daß die Jugend
Doch kein Gleiches tut.
Aus dem Böhmischen
Nachdichtung: Josef Wenzig  (1807-1876)

5. Im Herbst
Ernst ist der Herbst,
Und wenn die Blätter fallen,
Sinkt auch das Herz zu trübem Weh herab.
Still ist die Flur,
Und nach dem Süden wallen
Die Sänger stumm, wie nach dem Grab.

Bleich ist der Tag,
und blasse Nebel schleiern
Die Sonne wie die Herzen ein.
Früh kommt die Nacht:
Denn alle Kräfte feiern,
Und tief verschlossen ruht das Sein.

Sanft wird der Mensch,
Er sieht die Sonne sinken,
Er ahnt des Lebens wie des Jahres Schluß.
Feucht wird das Aug',
Doch in der Träne Blinken
Erströmt des Herzens seligster Erguß.
Klaus Groth  (1819-1899)
 
 

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